05.09.2011

Minenbesichtigung Potosi, 5.9.2011

Es war lange ein Thema, ob wir die Minen in Potosi besichtigen wollen oder nicht. Besonders Milena war anfangs ziemlich abgeneigt, denn ihr kam das Ganze (in Gedanken zumindest) eher wie ein Zoobesuch vor. Immerhin ist das keine lustige Tour mit Spannung, Spiel und Spass, sondern die Besichtigung einer der wohl übelsten Arbeitsplätze überhaupt. Wie viele von uns würden gerne bei einer solch harten Arbeit von hunderten Touristen angeglotzt werden? Trotzallem entschieden wir uns dafür. Nicht zuletzt auch, weil wir die Minenarbeiter mit Geschenken versorgen konnten und daran hatten sie ziemlich Freude. Zudem ist es ein Teil des täglichen Lebens für ca. 12’000 Leute hier. Was wir aber dort in der Mine vorfanden, war jedoch weit jenseits unserer Vorstellung gewesen…

Erst fuhren wir zu einem Haus, wo wir Blaumänner, Helm und Lampen bekamen. Danach ging es weiter zum Minero-Markt. Dort konnten wir Geschenke einkaufen. “Was brauchen denn Mineros?” Naja, die Antwort überraschte kaum: “Dynamit, 96%igen Alkohol, Coca-Blätter, Zigaretten (ohne Filter versteht sich) und vielleicht noch ein Soda-Getränk”. Dynamit kauft man hier in Potosi übrigens wie Schokolade. Es ist nebst Kolumbien der einzige Platz auf der Welt, wo man so einfach und legal Dynamit auf der Strasse kaufen kann. Natürlich ist der Reiz gross, so eine Stange auf Vorrat für den einsamen Salar zu kaufen. Aber wir liessen es bleiben. Was der 96%ige Alkohol betrifft, der ist nicht zum versorgen von Wunden gedacht, sondern zum trinken. Jawohl, ihr habt richtig gehört, die Mineros picheln diesen Zuckerrohrschnaps wirklich pur. Oli hat’s ausprobiert; Strohrum ist dagegen ein Zuckerwässerchen…!

Dann fuhren wir zu der Mine im Cerro Rico. Dieser Berg lieferte im 16. Jahrhundert den grössten Silberschatz ganz Amerikas und er wurde bereits von den Spaniern ausgebeutet. Der “Cerro Rico” (reicher Berg) sorgte dafür, dass Potosi einst die reichste Stadt der Welt und bedeutender und grösser als etwa Rom oder Paris war. Die Spanier zwangen ganze Dörfer zur Arbeit im Berg und der forderte unzählige Todesopfer. Für die Indigenas war der “Schatz Amerikas” der Eingang zur Hölle. Rund 8 Mio. Indigenas verloren bis ins 18. Jahrhundert im Berg ihr Leben. Heute ist (mit insgesamt über 46.000 Tonnen!) das Silber im Berg fast komplett ausgeräumt und es wird überwiegend Zink abgebaut.

IMG_4575 Cerro Rico

Heute sieht die Situation der Arbeiter zwar ein wenig besser aus, aber trotzdem würde bei diesen Arbeitsbedingungen der SUVA bei uns die Haare zu berge stehen. Ein Minero wird im Durchschnitt 35 (!) Jahre alt und verdient knapp Sfr. 160.- im Monat. Sie tragen zwar alle Helme (müssen sie selber kaufen), aber keine Atemschutzmasken. Die sogenannte Staublunge (Silikose) rafft viele Mineros schon in jungen Jahren dahin, sofern sie nicht schon vorher von einem Steinschlag verschüttet werden oder sie verunglücken indem sie in einen Schacht stürzen. In dem Berg arbeiten insgesamt rund 12.000 Menschen und Unfälle sind da an der Tagesordnung. Im besten Falle bricht man sich nur ein Bein. Dann kann man natürlich nicht mehr arbeiten und bekommt folglich auch keinen Lohn. Es sei denn, man schickt seinen kleinen Sohn in die Mine. Das ist für manche die einzige Alternative, denn hier hat keiner eine Arbeitslosen- geschweige denn Unfallversicherung die einem den Lohn zahlt. Kinderarbeit ist hier nicht nur ein Wort, sondern pure Realität. Auch wurden wir bis jetzt hier in Bolivien in den Restaurants und Läden meistens von Kindern bedient. Traurig, aber für viele gibt es keine andere Wahl.

Der Mineneingang war weniger beklemmend als erwartet. Man konnte einfach hinein gehen und es wurde immer dunkler und wärmer. Irgendwann kam ein schmaler Schacht im Boden und durch den ging es erst einmal 15m weit hinunter. Unten angekommen kam auch schon der nächste Schacht, wo wir nochmals 15m auf wackeligen Holzleitern hinunter stiegen. Milena hatte vor der Tour ernsthafte Bedenken, ob sie da nicht gleich in Panik ausbrechen würde, aber im Gegensatz zu einem Argentinier in unserer Gruppe machte ihr das gar nichts aus. Man realisiert gar nicht, wie tief man da eigentlich drinnen ist. Einzig bei den “Perforadores”, das sind Männer, welche Löcher für den Sprengstoff bohren, wurde sie dann für eine Sekunde lang etwas panisch. Wir konnten wegen dem vielen Staub fast nichts mehr sehen und der schmale Gang vibrierte von der Bohrmaschine. Wir nahmen unsere Pullover als Mundschutz. Es war extrem heiss, laut, staubig und da wir uns auf gut 4200müM aufhielten, war die Luft ohnehin schon sehr dünn. Da war bei Milena nichts mehr mit durch den Pulli atmen und sie bekam fast keine Luft mehr. Ein paar Meter weiter hinten ging es dann aber wieder. Wenn man sich erst einmal überlegt, dass wir gut 1h lang in den Berg hinein gingen, kann einem durchaus etwas mulmig werden. Nicht zuletzt auch, weil ja wohl jeder von uns das Minenunglück von Chile im Fernseher gesehen hat. Nur dass man in dieser bolivianischen Mine noch viel weniger gerne verschüttet werden möchte…

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IMG_4600 IMG_4588 Dynamit

Unterwegs trafen wir viele Mineros, welche teilweise sehr eigenartige Aussagen machten. “Wisst ihr, viele Leute denken das sei der schlimmste Job der Welt. Aber in Wirklichkeit ist alles gar nicht so schlimm. Man gewöhnt sich daran.” Diese Aussage machte der junge Minero allerdings vor seinem Chef der neben ihm sass und seit immerhin 30 Jahren in der Mine arbeitet. Entweder sie vergessen oder verdrängen die späteren Folgen dieses Jobs. Der junge Mann ist Student und verdient so sein Studium. Er geht Morgens sehr früh in die Mine und Nachmittags studiert er Metallurgie. Zum Glück machen das viele so und arbeiten nicht 100% in der Mine, sondern einfach Teilzeit oder 3-5 Monate lang. Der Lohn mag nämlich für uns nach wenig klingen, aber als “normale” Arbeiter würden sie nur etwa 100.- im Monat verdienen. Da sind natürlich 160.- schon sehr verlockend. Sie arbeiten übrigens gut 6-8h am Tag und das sechs Tage die Woche. Grundsätzlich dürfen sie erst ab 18 Jahren hier arbeiten, aber natürlich sieht die Realität anders aus. Auch 14 jährige werden hier durchaus schon beschäftigt. Schriftliche Arbeitsverträge existieren natürlich keine und alles wird mündlich vereinbart. Somit hat auch niemand einen Kündigungsschutz.

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Zwei junge Männer (oben links) schieben von Hand einen Wagen mit 1,5 Tonnen Material aus der Mine. Mineros (oben rechts) versuchen einen Kumpel aus dem Schacht zu ziehen.

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Am besten kam der Alkohol bei den jungen Männern an. Natürlich wurden wir auch für ein Schlückchen eingeladen und wir versuchten jeweils möglichst wenig das Gesicht zu verziehen. Netterweise verdünnte man den 96%igen Alkohol für uns mit etwas Süssgetränk, welches wir auch mit dabei hatten. Was wir schon sehr oft bei den Bolivianern beobachtet haben, ist ihr (für uns) eigenartiges Trinkritual. Erst wird ein Glas bzw. in diesem Falle zum Glück nur ein 1dl Becher mit Alkohol gefüllt, dann etwas absichtlich auf den Boden geschüttet und erst dann wird getrunken. Sie tun das immer, auch wenn sie nur Wasser oder eine Coca-Cola trinken. Damit spenden sie der Pachamama (Mutter Erde) jeweils auch einen Tropfen des Getränkes. Da uns der Minero genaustens beobachtete, spendeten auch wir der Mutter Erde einen grosszügigen Tropfen unseres Alkohol-Gemisches. Jeder Minero den wir trafen (wirklich jeder) hatte die Backen vollgestopft mit Coca-Blättern. Das Coca treibt die Männer zu besserer Leistung an und der Alkohol macht das ganze auch etwas erträglicher. Als wäre der Staub nicht schon schlimm genug, rauchen sie auch noch die stärksten Zigaretten und trinken fast puren Alkohol! Richtig harte Kerle!

Dann besuchten wir noch den Tio. Der Tio (Onkel) ist der Gott und der Teufel der Mineros. Die Figur ist zwar eindeutig in Form des Teufels dargestellt, aber trotzdem auch Gott und der Tio ist liiert mit Pachamama, der Mutter Erde. Die Mineros dürfen deshalb ihre Frauen nicht in die Mine mitnehmen, weil sonst Pachamama eifersüchtig würde und somit den Bodenschatz für sich behalten täte. Natürlich wird auch der Tio grosszügig mit Alkohol, Zigaretten und Coca versorgt. Als aller erstes mussten wir eine Zigarette anzünden und sie ihm in den Mund stecken. Der Tio wurde von den Spaniern errichtet, weil diese selber Angst hatten die Minen zu betreten und somit aber die Arbeiter nicht unter Kontrolle hatten. So wurde der Tio in Form eines Teufels als Aufpasser in die Minen gestellt, damit die Arbeiter auch schön brav schufteten.

IMG_4639 Tio

Wir waren ziemlich froh, als wir nach gut drei Stunden die Mine wieder verlassen konnten. Noch zwei Tage später klebte in unseren Ohren und Nasen noch immer der hässliche schwarze Staub und wir hatten etwas Kopfschmerzen. Oli bekam nach dem Minenbesuch einen furchtbar juckenden Hautausschlag am ganzen Körper. Ob der vom Staub oder vom Alkohol kam, wissen wir nicht so genau. Trotzdem war es ein einmaliges Erlebnis und nach so einem Besuch merkt man gleich wieder, wie verwöhnt wir in der Schweiz sind. Wenn wir in der Schweiz wieder arbeiten gehen und es uns am Morgen nicht so anmacht zum aufstehen, dann werden wir uns jedes mal an diesen Minenbesuch erinnern und denken: “Was haben wir bloss für ein wunderbares und sicheres Leben!”

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